Aktuell macht die Forschung einen weiteren großen Schritt in diese Richtung: An der Philipps-Universität Marburg wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft die Einrichtung eines neuen Sonderforschungsbereichs bewilligt: „Verlaufsformen affektiver Störungen“. Außerdem geht die Förderung für den SFB „Treatment Expectations (Behandlungserwartungen)“ in die zweite Runde. Die Arbeit der beiden SFB ist für die Behandlung psychischer Erkrankungen von großer Bedeutung, denn damit kann die Therapie der Betroffenen weiter individuell maßgeschneidert und damit optimiert werden.
Aufbauend auf einem riesigen und umfangreichen Datensatz aus einem Vorgängerprojekt werden nun der Verlauf und die Rückfälle bei Erkrankungen wie Depressionen oder bipolaren Störungen erforscht. Prof. Dr. Tilo Kircher, Direktor der Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie und Sprecher des SFB zu affektiven Störungen, erklärt: „Die große Frage ist, warum manche Menschen mit diesen Erkrankungen nach Jahren, in denen sie gesund sind, wieder monatelange Rückfälle erleiden. Was passiert bei ihnen?“ Die bisherigen Ergebnisse sind spannend: „Die Hirnareale, die für Emotionen und zielgerichtetes Denken zuständig sind, werden bei Stress oder akuter Erkrankung größer“, erklärt Prof. Kircher. „Wir denken nun, dass dort minimale Entzündungen entstehen.“ Zurückzuführen ist die Anfälligkeit für affektive Störungen wohl auf die Gene und frühe Umweltfaktoren in Kindheit und Jugend. „Es gibt Gene, die dafür prädisponieren, krank zu werden, und Gene, die davor schützen.“ Ob so eine Erkrankung nun ausbricht, hängt von kindlichen und später von Belastungen im Erwachsenenalter ab.
Bei der aktuellen Forschung hier in Marburg liegt der Fokus auch auf ungewöhnlicheren Merkmalen solcher Erkrankungen. „Auf manche Symptome wird viel geachtet“, sagt Kircher, „und dazu gibt es viel Therapie. Und auf andere wird traditionell wenig drauf geachtet und da gibt es wenig Therapie.“ Diese Symptome können aber sehr aufschlussreich sein, und deshalb arbeitet Dr. Frederike Stein, Wissenschaftlerin am Klinikum, an einem Phänomen namens „Spontansprache“. Was wie ein Forschungsfeld der Linguistik klingt, ist aber ein häufiges Symptom: „Aus der Schizophrenieforschung kennt man bereits, dass Menschen zerfasert oder zusammenhangslos reden“, erklärt die Medizinerin. Das tritt aber auch bei anderen Erkrankungen wie Depressionen auf. „Und das Spannende ist nun, dass diese formalen Denkstörungen eine große Vorhersagekraft über den Krankheitsverlauf haben.“ Ein mächtiges Werkzeug für neue Therapieformen – zum Beispiel kann so viel präziser gesagt werden, welches Antidepressivum zum Beispiel für eine bestimmte Patientin geeignet ist. Und das, weil hier wenig beachtete Symptome endlich Beachtung finden. „Das ist ein robustes und einfach erfassbares Maß, um die Entstehung und die Verläufe psychischer Krankheiten zu erfassen.“ Und der neue SFB an der Uniklinik Marburg stellt dafür Mittel und Daten zur Verfügung, um diese „Volkskrankheit“ effektiv zu behandeln.