„Religion formte das tägliche Leben und die Weltanschauung der Menschen in grundlegender Weise. In antiken Kulturen war fast alles religiös“, weiß Prof. Nils Heeßel, Leiter des Graduiertenkollegs zur Erforschung der Inszenierung religiöser Atmosphäre in antiken Kulturen an der Philipps-Universität in Marburg. „Selbst Landschaften waren damals religiös aufgeladen. Uns werden in überlieferten Texten heilige Grotten, heilige Haine, heilige Flüsse benannt, Orte sind nach Merkmalen besiedelt worden, die religiös aufgeladen waren, bestimmte Blickachsen zu diesen religiösen Merkmalen wurden eingehalten, Wälder wurden sogar gerodet, um Blickachsen frei zu machen“.
Prof. Nils Heeßel ist promovierter Philologe und hat sich seit über drei Jahrzehnten intensiv mit der Antike auseinandergesetzt. Sein Spezialgebiet: der Alte Orient mit seiner mesopotamischen Hochkultur. Er kann Keilschrift auf antiken Tontafeln entziffern, versteht Akkadisch und Sumerisch – die Sprachen der Sumerer, Babylonier und Assyrer im alten Mesopotamien – und hat umfangreiche Forschungen zu Ritualen, Wahrsagerei und Medizin aus dieser Zeit durchgeführt.
Der Blick zurück ist für ihn kein Selbstzweck. „Ich entziffere Tontafeln nicht um ihrer selbst willen. Ich möchte sie entziffern, weil sie eine Bedeutung für uns haben. Es ist wichtig zu wissen, wo wir herkommen und wer wir sind. Nur mit diesem Wissen können wir einen Blick in die Zukunft wagen.“
Die mesopotamische Hochkultur wird auch als Wiege der Zivilisation bezeichnet und bezieht sich auf die frühesten komplexen Gesellschaften, die im Gebiet des heutigen Irak sowie Teilen von Syrien, Iran und der Türkei entstanden sind. Mesopotamien bedeutet „Land zwischen den Flüssen“ und verweist damit auf das Gebiet zwischen den Flüssen Tigris und Euphrat. „Es ist eine der bedeutendsten Zivilisationen der Menschheitsgeschichte. Die damalige mesopotamische Hochkultur hat zwischen 3.500 v. Chr. bis etwa 500 v. Chr. die Grundlagen geschaffen, auf denen die griechische und jüdische Antike beruht. Und auf diesen beiden Säulen stehen wir bis heute. Europa ist gebildet worden in Annahme und Abgrenzung dieser Kulturen. Dieser Aushandlungsprozess hat unser heutiges Europa geformt.
„Wir verstehen nicht, wer wir sind, wenn wir diese Herkunft nicht wahrnehmen. Damals sind Mythen entstanden, Ideen entwickelt und wissenschaftliche Einsichten gewonnen worden, ohne deren Kenntnis sich späteren religiöse, politische und wissenschaftliche Entwicklungen kaum erklären lassen.“ erklärt Prof. Heeßel.
Die Erforschung religiöser Inszenierungen in dieser Zeit, so erklärt er uns weiter, kann uns sogar Orientierung in heutigen Zeiten geben, wo die Gesellschaft auseinanderzubrechen droht. So hielten damals gemeinschaftsstärkende Rituale vieles in der Gesellschaft zusammen. „Wir sehen in der Wissenschaft wie in der Gesellschaft heute ein großes Interesse am Individuum und unterschätzen die Bedeutung der Gemeinschaft. Der Mensch ist aber ein soziales Wesen und verhandelt seine Existenz nur in einer Gemeinschaft und in der Auseinandersetzung mit sich und seinem Gegenüber.“ gibt uns Prof. Nils Heeßel mit auf den Weg. „Die antiken Kulturen konnten sich mit existenziellen Fragen bereits mindestens so klar und deutlich auseinandersetzen, wie wir das heute tun. Es ist ein großer Irrtum zu glauben, dass wir in diesen Fragen heute wesentlich klüger sind als damals.“
Dieser Aspekt interessierte uns dann aber doch noch brennend und so stiegen wir erneut ins Gespräch ein. Was Prof. Heeßel hier zu berichten hat, erfahrt ihr allerdings erst im dritten Teil unserer Reportage.