„Mir wurde in diesem Moment klar, dass ich die Ideengeschichte nur über den einzelnen Menschen verstehen werde und dass ich mit meinem Archäologie-Studium in dieser Hinsicht nicht weiterkomme. Und ich verstand sofort, dass Schrift und Sprache, wie hier auf dieser Tontafel, der einzige Weg sind, auch existenzielle Fragen zu formulieren, damit in einen Austausch zu treten und die Gedanken dazu über viele Jahrhunderte hinweg zu konservieren.“
Nils Heeßel beendete das Archäologie-Studium, promovierte dann in der Philologie und ist heute, nach vielen Jahren des Studiums und der Forschung, Professor an der Philipps-Universität Marburg. Noch heute hängen gerahmte Fotografien der Ausgrabungen in Syrien in seinem Büro. „Sie erinnern mich immer daran, wie richtig meine Entscheidung damals war, denn bis heute hat mich die Neugier und der Wissensdurst nie verlassen.“
Viele Jahre hat Nils Heeßel zu mesopotamischen Ritualen geforscht, Keilschrifttexte entziffert und zahlreiche Artikel und Bücher in diesen Bereichen veröffentlicht und damit wesentlich zum Verständnis der alten vorderasiatischen Zivilisationen beigetragen. Im Frühjahr 2023 wurde dann für Prof. Nils Heeßel ein weiteres Kapitel seiner Forschung aufgeschlagen, denn die Deutsche Forschungsgemeinschaft bewilligte die Förderung eines Graduiertenkollegs zur Erforschung der „Inszenierung religiöser Atmosphäre in antiken Kulturen“, dessen Leitung er übernahm.
Dabei sieht Prof. Heeßel in der doch recht offen gehaltenen „Beschreibung einer Atmosphäre“ große Chancen für die Forschung. „Wir fragen uns, welches Bild wir uns von antiken Kulturen machen und wie sehr dieses Bild in unserem Kopf die bisherige Forschung bestimmt hat. Der Atmosphärenbegriff ist dabei wesentlich breiter gefasst und kann uns neue Erkenntnisse geben, weil sich aus ihm mehr ableiten lässt als bisher.“
Um diesen Gedanken für uns zu verdeutlichen, wählt er das Beispiel eines großen Fußballspiels und fordert uns auf, die Atmosphäre im Stadion zu beschreiben. Wir merken schnell, dass wir hier an Grenzen geraten, da allein die Perspektive aus der Sicht der Gewinner eine andere ist als aus Sicht der Verlierer. Könnte man sich bei der Beschreibung des Stadions und der Entwicklung der Lautstärke in der offenen Stadion-Konstruktion möglicherweise sogar auf einen Konsens einigen, würde dies bei der Beschreibung der Sichtachsen und des Lichteinfalls bei Platzierung in verschiedenen Rängen an seine Grenzen stoßen, ganz zu schweigen von geschlechterspezifischen Perspektiven. Mehr noch: Welche Rolle spielt der Ansager, welche Rolle spielt das Wetter, welche Rolle spielt die Dramaturgie, welche die Choreographie? Welche Farben herrschen vor?
Übertragen auf eine Atmosphäre in einer Zeit, die einige tausend Jahre zurückliegt, gestaltet sich die Beantwortung von Fragen zur religiösen Inszenierung gleichwohl schwieriger. „Zumal wir keine Fragebögen in diese Zeit senden können.“ lacht Professor Heeßel. „Und vergessen Sie nicht, dass wir hier nicht über ein 90-minütiges Fußballspiel reden, sondern über einen Zeitraum mehrerer tausend Jahre.“
Deshalb setzt sich das Graduiertenkolleg bei dieser Forschung auch aus gleich zwölf Altertumswissenschaften zusammen. „Angefangen bei der Theologie, Archäologie und Philologie über Rechtsgeschichte, Pharmaziegeschichte bis hin zu den Sprachwissenschaften ist alles dabei“, erzählt uns Prof. Nils Heeßel.
„Diese lange Sicht erzählt uns viel mehr als die doch relativ kurzen, gesellschaftlichen Sprünge, die wir im Moment erleben. Ich möchte die Erkenntnisse in einen größeren zeitlichen Kontext stellen und verstehen, wo wir herkommen, wer wir sind und möglicherweise auch daraus ableiten, wohin wir gehen können.“